Mit Nostalgie lässt sich keine zukunftsfähige Stromversorgung aufbauen

Die emeritierten Ökonomieprofessoren Borner und Schips kritisieren mit einem Hauch Ewiggestrigkeit die Energiestrategie 2050 und fordern ein «Umdenken», ohne zu präzisieren, worin dieses bestehen würde (NZZ vom 8.9.2018). Konkret  bringen sie vier Kritikpunkte an. Erstens seien die neuen erneuerbaren Energien nicht marktreif, zweitens würde ihre mengenmässige Entwicklung nirgends hinreichen, drittens seien ihre Erlöse in Situationen mit viel Sonne oder Wind tief, und viertens müsse man diese Energie zwischenspeichern.

Die Frage der Markreife ist die Interessanteste. Als Messlatte dienen die Grosshandelspreise an der Börse. Diese schwankten in den letzten Jahren zwischen 3 und 6 Rappen pro Kilowattstunde. Photovoltaik und Windkraft sind bereits heute die kostengünstigsten netzgekoppelten Energiequellen. Förderprogramme haben weltweit eine massive Kostensenkung bewirkt. Solarstrom ist innerhalb von nur 10 Jahren 80 bis 90 Prozent billiger geworden. In der Schweiz produzieren neue grössere Photovoltaikanlagen zu weniger als 10 Rappen pro Kilowattstunde.

Bei den herkömmlichen Energien sieht die Lage wie folgt aus: Der Preis für Strom aus neuen Wasserkraftwerken liegt zwischen 10 und 20 Rappen, Elektrizität aus neuen Kohlekraftwerken liegt im Bereich von 17 Rappen. Bei Gaskraftwerken liegen die vollen Gestehungskosten ungefähr bei 10 Rappen je nach Anzahl Betriebsstunden. Elektrizität aus neu gebauten AKW ist wesentlich teurer, um die 12 Rappen im besten Fall, wie das vom britischen Staat massiv geförderte  AKW-Projekt Hinkley Point C zeigt. Dabei sind die Rückbau- und Entsorgungskosten nur sehr begrenzt eingerechnet. Entgegen den Hoffnungen der Atombranche haben die massiven staatlichen Förderprogramme in Frankreich, Russland und den USA nicht wie bei den Erneuerbaren zu Kostensenkungen geführt. Im Gegenteil: Atomstrom wird laufend teurer. Wer heute neue AKW baut, tut dies aus militärischen Interessen.

Mit der Darstellung der Gestehungskosten von neuen Stromerzeugungsanlagen wird das Grundproblem des Strommarktes ersichtlich: Keine Technologie kann ihre Investitionskosten refinanzieren. In einem Punkt ist also den Autoren recht zu geben: Es gibt ein Problem mit der Markttauglichkeit, aber dieser betrifft alle Stromerzeugungsarten – auch Atom- und Kohlekraftwerke. Das heutige Strommarktmodell ist nicht geeignet für eine Welt, die von Energien mit Grenzkosten nahe null dominiert wird. Der sogenannte «Energy-only-market» funktionierte einigermassen, als fossile Kraftwerke mit hohen Grenzkosten dominierten. Jetzt muss ein neues Strommarktmodell entwickelt werden, das Versorgungssicherheit, Ausbau von erneuerbaren Kraftwerkskapazitäten und Klimaschutz ermöglicht.

Die zweite Kritik betrifft den angeblich fehlenden Zuwachs der erneuerbaren Energien. Dazu hilft ein Blick in die eidg. Statistik der erneuerbaren Energien. Im letzten Jahr vor dem Inkrafttreten der Energiestrategie (2017) hat die Photovoltaik 1,7 Terawattstunden (TWh) produziert. Wind lag bei 0.13 TWh, Biomasse bei 0,6 TWh und erneuerbare Abfälle bei 1,2 TWh. Die von der KEV geförderte Kleinwasserkraft lag bei 1,3 TWh. Insgesamt haben also die neuen Energien letztes Jahr rund 5 TWh geliefert. Zum Vergleich produzierten die Schweizer AKW im Schnitt 2015 bis 2017 rund 20 TWh pro  Jahr. Früher lag deren Produktion bei rund 25 TWh, womit ersichtlich wird, dass der technisch bedingte Niedergang der AKW bereits begonnen hat. Fazit: Die neuen Erneuerbaren haben schon vor der Energiestrategie 2050 einiges erreicht und es ist ihnen gelungen – reiner Zufall – den Niedergang der AKW-Produktion gerade auszugleichen.

Aber Schips und Borner haben recht: Es braucht mehr. Dazu gehört ein Bekenntnis, dass wir in diesem Land weiterhin Strom produzieren wollen, und zwar im mehrjährigen Durchschnitt gleich viel wie wir verbrauchen. Der Energy-Only-Markt wird dazu kaum genügend Investitionssicherheit liefern. Denn die tiefen Grenzkosten bestimmen den Marktpreis, der aber nicht erlaubt, die Vollkosten zu amortisieren. Das erste Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050, das vom Volk im Mai 2017 genehmigt wurde, lindert zwar mit ihren Fördermitteln dieses Marktversagen und dürfte gemäss Prognose ausreichen, um eine zusätzliche Stromproduktion von 11 bis 13 TWh aus erneuerbaren Quellen zu erreichen. Zur Erreichung der genannten Ziele genügt das aber nicht, weshalb der Ball nun wieder bei der Politik liegt: Das schon lange in Aussicht gestellte zweite Massnahmenpaket zur Energiestrategie muss beim Strommarkt ansetzen.

Der dritte Kritikpunkt ist aus meiner Sicht unverständlich. Dass einmal gebaute Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energie zu gewissen Zeiten billigen Strom liefern ist volkswirtschaftlich ein Vorteil. Dieser billige Überschussstrom kann entweder gespeichert oder in synthetisches Erdgas umgewandelt werden, womit klimaneutrale chemische Energie zur Verfügung steht. Volkswirtschaftlich entscheidend sind die Vollkosten, wie oben dargestellt.

Der vierte Kritikpunkt, wonach es Speicherung braucht, ist unbestritten. Nur: Auch Atomkraftwerke, die immer die gleiche Leistung liefern, brauchen Speicher- und Ausgleichmöglichkeiten, um sich dem Verbrauch anzupassen. Der Mensch lebt bekanntlich am Tag und schläft in der Nacht. Dass Photovoltaik am Tag produziert, ist also ein Vorteil. Speicherung braucht es auch wegen den saisonalen Schwankungen. Unsere bestehenden Stauseen haben also keineswegs ausgedient. Auch In Sachen Speicherung ist eine Vollkostenbetrachtung notwendig: Wollen wir lieber billige Erneuerbare mit mehr Speicherung oder lieber teure AKW mit etwas weniger Speicherung, dafür horrende Rückbau- und Abfallbewirtschaftungskosten, ohne von den Kosten eines allfälligen Super-Gau zu sprechen?

Übrigens: Unsere neu gebauten Pumpspeicherwerke Linth-Limmern und Nant-de Drance werden erst dann rentabel, wenn es noch mehr Schwankungen im Netz gibt. Somit ist ein rascher Ausbau der erneuerbaren Energien auch im Interesse der Wasserwirtschaft.

Borner und Schips kritisieren die Energiestrategie 2050, ohne einen Hinweis auf mögliche Alternativen zu geben. Tatsache ist aber, dass die Produktion der bestehenden Atomkraftwerke der Schweiz innerhalb der nächsten 20 Jahre ersetzt werden muss. Auch wenn der Volksentscheid wieder umgestossen werden sollte: Neue AKW sind nur mit staatlicher Förderung in Milliardenhöhe zu haben. Und Gaskraftwerke schliessen die Autoren selbst aus. Daraus wird ersichtlich, dass sie eine Rückkehr zum Atomzeitalter anstreben, das weder ökonomisch noch gesellschaftlich akzeptabel ist.

Der einzig gangbare Weg zu einer sicheren und sauberen Energieversorgung ohne vermehrte Auslandabhängigkeit ist somit der rasche Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz, kombiniert mit Massnahmen zur Energieeffizienz, wie sie die Energiestrategie 2050 vorsieht. Der Schweizer Wirtschaftsstandort mit seiner hohen Innovationskraft kann davon nur profitieren.