Die Beziehung Schweiz-Europa erstarken

Rede anlässlich der Europadebatte vom 27.9.2018 im NR (en français)

Seien wir ehrlich: Die öffentliche Debatte, die Sie, Herr Bundesrat Cassis, im Juni eingeleitet haben, in der sie die  flankierenden Massnahmen zur Disposition gestellt haben, hat sich als nicht sehr produktiv erwiesen. Sie haben die roten Linien des Bundesrates in Frage gestellt, und das war ein grober Fehler. Im Nachgang zu dieser Brainstroming-Operation erwarte ich von dieser Parlamentsdebatte kein Wunder.

Allerdings sehe ich trotzdem in unserer heutigen Diskussion einen  möglichen Nutzen.

Sie soll uns daran erinnern, wie wichtig Europa für die Schweiz ist, wie wichtig es für die Schweiz ist, dass es Europa gut geht, wie sehr der Erfolg der Schweiz auch vom Erfolg Europas abhängt und wie wichtig es ist, die Löhne zu schützen.

Denn eines ist klar und sollte den Grundsatz all unserer Überlegungen bilden:  Die Schweiz liegt im Herzen Europas, natürlich geografisch, aber auch wirtschaftlich, sozial, historisch und kulturell. Mit anderen Worten, die Schweiz wird sich nie aus dem europäischen Gefüge herauslösen können, weil  sie mit Europa in vielfältiger Weise verknüpft, verbunden und verflochten ist. Wenn Europa also in Schwierigkeiten steckt, ist das nie gut für die Schweiz. Und wenn die Schweiz erfolgreich sein will, muss sie sich auch um Europa kümmern.

Leider sind heute die Nationalismen wieder im Aufwind. Von Victor Orban bis Matteo Salvini, von Christoph Blocher bis Alexander Gauland. Die große “Internationale der Nationalisten” hofft auf einen   Zusammenbruch der europäischen Institutionen, die Wiederherstellung der Grenzen und die Rückkehr der nationalen Egoismen.

Dabei unterdrückt der Nationalismus Minderheiten, isoliert Völker, zerstört die internationale Ordnung, ohne irgendein Problem zu lösen. Weder die Armut, noch die Klimaherausforderung, noch das Migrationsproblem, oder die Unterentwicklung machen an den Landesgrenzen halt. Ohne engen Zusammenarbeit können Sie nicht angepackt werden.

Im vergangenen Jahrhundert haben zweimal auf unserem Kontinent nationalistische Kräfte die Macht übernommen. Die  katastrophalen Folgen kennen wir alle. Es liegt in unserer Verantwortung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Und die europäische Integration ist die richtige Antwort all jener, die gestern und heute “nie wieder” sagen.

In diesem Sinne sind die Erwartungen an die Europäische Union hoch.  Und natürlich ist sie nicht perfekt. Sie ist eine Konstruktion im Entstehen, die nicht immer den aktuellen Herausforderungen gewachsen ist.

– Ich denke zum Beispiel an die Währungsunion, die noch nicht fertiggebaut ist. Ihre Vollendung ist dringend, damit sie solider  und die notwendige innere finanzielle Solidarität gewährleisten wird.

– Ich denke an die Modernisierung des Dublin-Abkommens, denn Länder wie Italien und Griechenland werden nicht ausreichend unterstützt.

– Ich denke an die europäische Aussenpolitik und an den politischen Einfluss Europas in der Welt.

– Ich denke an den Kampf gegen die Armut auf unserem Kontinent und anderswo, insbesondere in Afrika, dessen Entwicklung dringend unterstützt werden muss.

Wir hoffen daher, dass die Europäische Union in der Lage sein wird, diese Herausforderungen zu bewältigen.

Im Umkehrschluss gilt aber auch: Sollte die  Europäische Union sich allmählich auflösen, wären die Folgen verheerend. Natürlich in wirtschaftlicher und geldpolitischer Hinsicht, aber auch in vielen anderen Bereichen.

Ein globaler Akteur, der für Stabilität und Sicherheit in der Welt unerlässlich ist, würde verschwinden.

Wer würde anderen Großmächten, wie China, den Vereinigten Staaten, Russland oder der Türkei entgegentreten? Diese Kräfte sind mit ihrer Vorliebe für selbstherrliche Politik  und ihre Abneigung gegenüber Kooperation zu Zeit ja ziemlich besorgniserregend.

Die Schweiz hat sich dafür entschieden, außerhalb der Europäischen Union zu bleiben. Das ist eine Tatsache. Aber in dieser Situation ist es umso wichtiger, eine solide, konstruktive und nachhaltige Beziehung zur Europäischen Union zu pflegen. Gerade aus diesem Grund wünschen wir den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens.

Ebenso kann die Schweiz in einer längeren historischen Perspektive nur Eines wünschen, nämlich dass die Europäische Union erstarkt und ihre derzeitigen Schwierigkeiten überwindet.  Deshalb müssen wir auch unseren Beitrag in Form eines finanziellen Beitrags zu den Kohäsionsbemühungen leisten, und deshalb hoffen wir, dass der Bundesrat auch in dieser Frage vorankommt und die Botschaft bald verabschiedet .

Das ist mitunter einer der Gründe, weshalb unser Parlament morgen aller Voraussicht nach das Dumping bei der Gewinnbesteuerung abschaffen wird.

Ich habe die Schwierigkeiten der EU erwähnt, aber in letzter Zeit sind auch  einige sehr positive Entwicklungen in der Gemeinschaft zu verzeichnen und zu würdigen. Alle haben übrigens eine Gemeinsamkeit, nämlich dass sie weitgehend dem Engagement des Europäischen Parlaments zu verdanken sind. Ich denke dabei insbesondere an die folgenden Punkte.

1) Die Datenschutzrichtlinie

2) Fortschritte bei der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung.

3) Einen besseren Schutz des Urheberrechts gegenüber Internet-Giganten.

4) Die Beschleunigung des Übergangs zu erneuerbaren Energien.

5) Eine erhebliche Stärkung des Schutzes für entsandte Arbeitnehmer.

In diesem letzteren Bereich hat die Europäische Union endlich verstanden, dass wirtschaftliche Öffnung nicht nur den Unternehmen, sondern auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugutekommen muss. Außerdem darf es nicht sein, dass die Schwächsten unter ihnen die Kosten für die Öffnung tragen müssen.

In der Schweiz haben wir seit den ersten bilateralen Abkommen dafür gekämpft, dass der Lohnschutz bei jedem Schritt der wirtschaftlichen Öffnung nach Europa verstärkt wurde. Nach der Ablehnung des EWR hat diese Strategie des Lohnschutzes die wirtschaftliche Öffnung in Form von bilateralen Abkommen ermöglicht, die in Volksabstimmungen eine breite Akzeptanz gefunden hat. Besser noch, diese Politik hat die Grundlage für die Stärkung der Gesamtarbeitsverträge gelegt, was zu  einer Verbesserung der Löhne geführt hat, insbesondere in Bereichen, in denen sie sehr niedrig waren. Schließlich sind wir stolz darauf, dass unsere Strategie auch endlich zur Abschaffung der letzten Überbleibsel des Saisonnierstatuts und zur weitgehenden Beendigung der Lohndiskriminierung zwischen Schweizern und Ausländern in unserem Land geführt hat: Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten und Schweizer Staatsangehörige genießen heute in der Schweiz den gleichen Schutz und die gleichen Arbeitsbedingungen, weil unser System nicht diskriminierend ist.

Diese Erfahrung mit den flankierenden Massnahmen ist eine Erfolgstory. Auch für die vielen Eu-Bürgerinnen und –Bürger in unserem Land, ich betone das. Die Geschichte lehrt uns also klar, dass europäische Öffnung nur mit sozialem Fortschritt gelingt.

Wir sind daherwild entschlossen, den Lohnschutz im Rahmen der Verhandlungen über die institutionelle Vereinbarung zu verteidigen, wie wird das auch  in unserer Europa Road-map von 2016 erneut bestätigt haben. Zwei Gründe bestärken uns in unserer Entschlossenheit.

Erstens ist das neue europäische System des Lohnschutzes eben erst in Kraft getreten und die Mitgliedstaaten haben bis 2020 Zeit, um es umzusetzen. Dann muss es noch seine Wirksamkeit beweisen. In Sachen Lohnschutz ist es für uns klar: Besser der Spatz in der Hand als  die Taube auf dem Dach. Wobei der Spatz in diesem Falle wohl eher ein ausgewachsener Vogel ist.

Zweitens sehen wir gar nicht ein, weshalb die Schweiz ihr Lohnschutzsystem gerade jetzt schwächen sollte, wo die Union für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten endlich anerkannt hat, dass ein aktiver und entschlossener Kampf gegen Lohndumping erforderlich ist, ganz im Einklang mit dem, was wir in der Schweiz tun.

Im Bereich des Lohnschutzes ist das Verhandlungsmandat des Bundesrates fair und soll keinesfalls geschwächt werden. Dieses Mandat ist die Grundlage für die Fortsetzung des Bilateralen Weges. Und wenn der Bundesrat in diesem Punkt leider eine schlechte Einigung erzielen sollte, ist es sicher, dass er durch Volksabstimmung gestoppt würde.

Folglich müssen wir die Verhandlungen in Brüssel fortsetzen, ohne unsere Position aufzugeben, aber auch im Geiste der Kooperation. Erst kürzlich forderte Herr Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, einen baldigen Abschluss der Verhandlungen.

Das bedeutet, dass die Europäische Union ein Interesse am Abschluss des Abkommens hat und daher möglicherweise Zugeständnisse machen wird, um es zu erreichen.

Gleichzeitig müssen wir in diesem Land aufhören, die Europäische Union systematisch schlecht zu reden . Ich verstehe, dass die Europäer diesen spottenden und negativen Diskurs, nicht mehr tolerieren .

Meine Damen und Herren, ich sehe wenig Würde in dem hierzulande geläufigen heuchlerischen Ansatz, das Beste aus der Europäischen Union herauszuholen, und gleichzeitig  heimlich zu hoffen, dass sie scheitert.

Diese wenig konstruktive Geisteshaltung vergiftet unsere Beziehungen zur Union und ihren Mitgliedstaaten. Sie untergräbt die Glaubwürdigkeit der Schweiz und gibt ihr das Image eines unaufrichtigen Partners, dem man nicht trauen kann.

Ich wiederhole, und das wird mein Fazit sein: Die Schweiz hat ein Interesse an einer Europäischen Union, die sich gut entwickelt und stärker wird. Es ist an der Zeit, dass unser Land endlich und unmissverständlich den grossen Beitrag der Europäischen Union zu Frieden und Wohlstand auf unserem Kontinent anerkennt.

Diese Änderung unserer Einstellung würde unsere Position und unser tägliches Leben im Herzen Europas erheblich vereinfachen.

Sie würde den Abschluss eines guten institutionellen Abkommens auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und Wertschätzung ermöglichen. In diesem Sinne könnte das Rahmenabkommen wirklich zu einem «Freundschaftsabkommen“   werden.