Sonntagsblick 29.5.2022 vers la version française
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist eine wirre Debatte über die Schweizer Neutralität entbrannt. Der Mitte-Präsident ging gar so weit, Waffenlieferungen an die Ukraine vorzuschlagen. Er erhielt dabei von einigen Seiten unerwarteten Applaus. Andere Bürgerliche versuchen, den NATO-Beitritt auf die Tagesordnung zu setzen. Und ganz rechts war man im Namen der Neutralität sogar dagegen, Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen – oder auch nur klarzustellen, wer der Aggressor in diesem brutalen Krieg ist. Anstelle dieses Wirrwarrs drängt sich deshalb zunächst eine saubere Auslegeordnung auf.
Die Neutralität hat zwei Säulen: Die erste Säule besteht aus dem Neutralitätsrecht und der militärischen Neutralität. Sie sind der Kern der Neutralität und völkerrechtlich verbindlich im Haager Übereinkommen aus dem Jahr 1907 verankert. Die Verpflichtungen, die sich daraus ergeben, sind klar: Neutrale Staaten dürfen natürlich das eigene Territorium verteidigen, aber sie dürfen weder bei militärischen Konflikten zwischen Drittstaaten intervenieren noch eine der Kriegsparteien bevorzugt behandeln. Die Schweiz wendet den letzten Punkt so an, indem sie keine Waffen an Kriegsparteien liefert. Gerade die aktuelle Krise zeigt, dass diese Lösung durchaus Sinn macht: Für eine an die Ukraine gelieferte Kanone müssten wir sonst auch Russland eine anbieten.
Bei allem militärischen Verständnis für die emotionale Versuchung, dem NATO-Bündnis beizutreten, ist dieser Weg kaum mit dem rechtlichen Kern der Neutralität zu vereinbaren. Österreich ist auch nicht Mitglied der NATO. Kein Zufall. Neutralität bedeutet in dieser ersten Säule Bündnisfreiheit.
Die zweite Säule ist die Neutralitätspolitik. Dabei handelt es sich nicht um eine völkerrechtliche Verpflichtung. Die Neutralitätspolitik ist ein offenes Instrument für alle Fragen, bei denen es nicht um die strikt militärische Neutralität geht. Die Neutralitätspolitik orientiert sich im Grundsatz an der Einhaltung des Völkerrechts. Die Schweiz ist als kleiner Staat auf die Einhaltung des Völkerrechts und auf die Eindämmung des Rechts des Stärkeren fundamental angewiesen. Im Fall des aktuellen Krieges in der Ukraine war ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates nicht möglich, weil Russland ein Veto eingelegt hat. Die völkerrechtliche Ausgangslage ist allerdings hier völlig klar: Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland massiv gegen das Kardinalprinzip der Unantastbarkeit der territorialen Integrität der Staaten verstossen.
In der zweiten Säule der Neutralität verfügt die Schweiz über eine grosse Flexibilität. Diesen Spielraum kann sie für eine aktive und konstruktive Aussenpolitik nutzen, die sich an den UNO-Zielen der nachhaltigen Entwicklung orientiert. In den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechte, humanitäre Hilfe und Umwelt betreibt die Schweiz insgesamt eine gute Politik. Sie sollte sie aber angesichts der Lage der Welt massiv ausbauen.
Verbesserungsbedürftig in diesem Kontext ist der Schweizer Finanzplatz. Statt auf globaler Ebene eine nachhaltige Entwicklung zu fördern, wird unser Finanzsektor allzu oft als Drehscheibe für alle Arten von dubiosen Geschäften missbraucht, zuletzt zum Beispiel als Rückzugsort für die russische Kleptokratie. Das schadet unserem Ruf und der Welt.
Der andere Pfeiler einer aktiven und konstruktiven Aussenpolitik besteht logischerweise darin, gute Beziehungen zu den Nachbarn zu pflegen und einen möglichst hohen Grad an Zusammenarbeit zu erreichen. Die Schweiz sollte endlich ihre Beziehungen zur Europäischen Union auf eine solidere und kooperativere Basis stellen. Denn wenn es eine Sache gibt, die sich nicht verändern lässt, dann ist es die Geografie. Und diese positioniert die Schweiz, ob wir es wollen oder nicht, mitten im Herzen von Europa.
Oft wird in der Schweiz alles, was mit der EU zusammenhängt, aus einer dogmatischen, antieuropäischen Haltung heraus abgelehnt. Dabei würde sich gerade in Punkto Sicherheit eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der sog. Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU anbieten. Im Unterschied zu einem politisch ohnehin völlig chancenlosen NATO-Beitritt würde die Vertiefung dieser Zusammenarbeit auch wertemässig zur Schweiz passen und ihre Sicherheit effektiv stärken.
Was in diesem schwierigen geopolitischen Umfeld am meisten fehlt, ist die Stimme der Landesregierung. Der Bundesrat sollte eigentlich den aussen- und sicherheitspolitischen Kurs vorgeben und verteidigen. In der Militärpolitik begnügt er sich aber derzeit damit, eine konzeptlose Budgeterhöhung zu unterstützen, die ihm die Stahlhelmfraktion des Parlaments aufgezwungen hat. Und in der Europapolitik spielt er auf Zeit und macht derart schwammige Vorschläge, dass weder die Schweizer Öffentlichkeit noch die EU verstehen, was der Bundesrat eigentlich will. Diese fehlende Leadership der Landesregierung schadet der Schweiz.